Gerade spät diagnostizierten Autisten und Autistinnen gehen solche und ähnliche Fragen immer und immer wieder durch den Kopf.
Was an mir bin ich?
Was an mir ist Maske?
Was ist mein Charakter?
Was ist mein Autismus?
Und und und…
Bin ich in erster Linie Autist? Oder Frau? Oder Bäcker? Frühaufsteher? Fußballhasser? Tierfreund?
Es ist absolut nachvollziehbar, wenn die eigene Identität in Frage gestellt wird.
Schließlich haben die meisten Menschen, die erst im Erwachsenenalter eine Diagnose bekommen, bereits seit Kindheit erfahren müssen, in irgendeiner Form anders zu sein. Das muss einem auch niemand so explizit sagen… Das bekommt man sowieso mit…
„Du stellst dich aber auch immer an…“
„Meine Güte… Jedes Kind mag Nudeln…“
„Du bist ein echter kleiner Klugscheißer, was?“
„Er passt irgendwie nicht ins Team, vielleicht sollten Sie ihn woanders anmelden.“
„Wenn dein Kopf nicht angewachsen wäre, würdest du ihn auch noch irgendwo vergessen…“
„Hast du gute Laune? Sag das mal deinem Gesicht…“
„Mann, du musst doch nicht immer alles so wörtlich nehmen…“
Und dennoch hat sich die Person irgendwie durchs Leben gekämpft - hat sich mehr oder weniger viele und tiefe Schrammen und Narben zugezogen, bei dem Versuch dem Tempo und der Intensität von „man tut“ und „man macht“ bestmöglich standzuhalten.
Und dennoch war es gefühlt oft nicht genug…
Dennoch blieben Bekanntschaften vielleicht nur oberflächlich, wurden viele Anstellungen gekündigt…
Dennoch fühlte man sich nie so richtig angekommen, bedingungslos verstanden…
Und nun gibt es eine Diagnose… Es gibt eine „Schublade“, in die man hineinpassen würde…
Aber: Will ich da rein?
Was bedeutet das? Nun bin ich plötzlich autistisch? Behindert? Habe Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis? Auf Therapien? Auf Nachteilsausgleiche?
Brauche ich Hilfe? Jetzt noch?
All diese Fragen und noch viele, viele mehr drängen plötzlich nach vorn, wollen gesehen, gefühlt und wenn möglich beantwortet werden.
Warum kommt die Diagnose erst jetzt?
Was wäre gewesen, wenn ich die Diagnose schon früher bekommen hätte?
Wer wäre ich geworden, wenn ich die Diagnose schon früher bekommen hätte?
Was wäre mir erspart geblieben?
Was hätte ich aber auch evtl. verpasst…?
So viele Fragen und oftmals keine Aussicht auf Antworten.
Glücklicherweise gibt es immer mehr Angebote wie Selbsthilfegruppen, spezialisierte Coachings und Beratungen oder auch Austausch auf Social Media.
Ich kann euch nur auffordern, euch alle Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, die euch wichtig sind.
Habt keine Angst!
Ihr seid nicht die erste Person, die sich diese Fragen stellt und auch nicht die letzte! So viele Menschen stehen nach einer späten Diagnose gefühlt erst mal vor dem Nichts und müssen sich wieder ganz neu kennenlernen.
Nehmt euch dafür die Zeit, die ihr benötigt. Das sind echte Lebensfragen. Die kann man nicht mal eben beim Tee in einer halben Stunde `ergooglen` und abhaken.
Manchmal fühlt es sich an, als wenn ihr nach einem Erdbeben erst mal alle Trümmer sichten und auf Tauglichkeit prüfen müsst.
Manchmal ist es so, als wenn ihr aus Scherben ein Mosaik zusammensetzt - ein sehr individuelles - aber vielleicht auch sehr schönes!
Und manchmal fühlt es sich an, als wenn ihr nach einem langen Tag in unbequemen Schuhen endlich in eure weichen Lieblingshausschuhe schlüpft. Erst mal ungewohnt, aber kuschelig.
Ihr habt nun ein neues Puzzleteil, welches ihr integrieren könnt. Vielleicht fehlte es nur ganz außen am Rand, vielleicht ist es aber auch ein lang ersehntes Teil aus der Mitte des Hauptmotives - und endlich könnt ihr das gesamte Bild erkennen…
Es ist dein Leben - mit all seinen Facetten!
Und nicht vergessen! Das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ setzt sich aus 2 Zeichen zusammen: „Gefahr“ und „Gelegenheit“.
Wenn ihr euch also nach einer späten Diagnose erst mal ordentlich durchgeschüttelt fühlt… Seid lieb zu und geduldig mit euch!
Vielleicht erkennt ihr nach und nach aber auch neue Möglichkeiten, die sich durch die gewonnenen Erkenntnisse erst ergeben!
Bleibt neugierig!
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