Nach einer späten Diagnose ruft der Eine womöglich voll Freude: „Ah! Deshalb war mein Leben bisher so anstrengend! Endlich weiß ich warum und kann mir entsprechende Hilfen suchen und gönnen!“
Der Andere ist aber vielleicht nach der Diagnose „schwarz auf weiß“ erstmal verwirrt…
Dem ersten Schreck - ja manchmal auch Schock - folgen dann möglicherweise die Schritte, die man auch in der Trauerarbeit kennt.
„Was??? Trauerarbeit???“
Ja, durchaus, denn eigentlich wünscht sich jeder so „normal“ wie möglich zu sein, nicht aufzufallen, mitzuschwimmen… Deshalb hat so manch spät Diagnostizierter auch so lange mehr oder minder erfolgreich maskiert…
Und nun „darf“ bzw. „muss“ man sich einer ganz neuen Möglichkeit stellen… Nun flattern plötzlich Begriffe wie „Schwerbehindertenausweis“, „Pflegestufe“, „Assistenzen“, „Therapie“ um einen herum…
Möglicherweise durchläuft man also folgende Stadien:
- Nicht-Wahrhaben-Wollen
„Ich???? So ein Quatsch! Ich bin doch nicht behindert….“
- Zorn
„Warum ausgerechnet ich???“, „Warum erst jetzt?“
- Verhandeln
„Vielleicht stimmt die Diagnose ja gar nicht… gibt es da nicht was anderes… vielleicht bin ich ja einfach „nur“ hochsensibel…“
- Trauer/ Depression
„Oh mein Gott! Kein Wunder, dass es mir mein Leben lang überall so schwerfiel. Niemand hat mir geholfen. Wie soll ich jetzt nur weitermachen? Hat das alles überhaupt noch einen Sinn? Soll ich etwa jetzt nochmal neu starten? Mir fehlt dazu wirklich die Kraft.“
- Zustimmung
„Ok - so ist es nun. Mal schauen… Wer bin ich? Was kann ich? Was kann ich vielleicht nicht oder nur mit großer Anstrengung? Was kann ich mir Gutes tun? Wo kann ich mir möglicherweise welche Hilfen holen?“
Tatsächlich ist es wichtig und auch richtig, diese Schritte zu durchlaufen.
Immerhin werden alle „Gewissheiten“, die man sich ein Leben lang aufgebaut hat, erst mal eingerissen.
Es tauchen so viele Fragen auf - und Selbstzweifel.
So kommt es dem Einen oder der Anderen mitunter vor, als ob sich die autistischen Symptome nach einer Diagnose verstärken würden…
Woher kommt das?
Nun, zum Einen wird man sich der Symptome bewusst. Die sogenannten stereotypen Verhaltensweisen zum Beispiel…
Vor der Diagnose hatte man da vielleicht die Menschen im Sinn, die mit den Händen vor den Augen flattern, hüpfen oder wieder und wieder den runden Türknauf abtasten.
Das eigene Wippen der Beine oder Aneinanderreiben der Füße hatte man bis dato noch gar nicht als mögliches „Symptom“ im Blick… erst jetzt…
Desweiteren werden Symptome „sichtbarer“, da man gerade in der ersten Zeit der Verarbeitung naturgemäß unter Stress und Druck steht! Plötzlich ist alles anders, erhält eine andere Bewertung, ist nicht mehr sicher…
„Bisher war ich ein „Nerd“ - jetzt auf einmal „behindert“?“
Und unter Stress wird Stimming häufiger zur Regulation benötigt - also wird auch das sichtbarer und gefühlt (erst einmal) mehr.
Und nach und nach liest und hört man immer mehr.
„Ach, das kann auch eine Art Stimming sein? Huch - das mache ich ja auch!“
Es braucht seine Zeit, sich neu kennenzulernen.
Es kann sehr hilfreich sein, wenn man während dieser Phase eine gute Unterstützung von außen erhält, wenn man jemanden hat, mit dem man seine Sorgen und auch Fragen austauschen kann.
Und ja, es ist erlaubt in dieser Zeit schneller erschöpft zu sein, an manchen Tagen völlig frustriert zu sein, sein gesamtes Leben in Frage zu stellen.
Aber bitte: geht da durch! Geht immer weiter - jeden Tag einen kleinen Schritt.
Seid nett zu euch selbst!
Erkennt lobend an, was ihr in eurem Leben schon alles erreicht habt! Das habt ihr alles selbst geschafft! Bislang ohne Diagnose und ohne das entsprechende Wissen!
Ihr seid bis hierhin gekommen! Gratulation! Und jetzt eröffnen sich neue Wege!
Bleibt neugierig!
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