Finja (4 Jahre), ein wunderhübsches Mädchen mit unfassbar tollen Haaren und großen runden Augen, wurde im Auftrag des Frühförderzentrums zu uns in die Logopädie geschickt.
Die ersten 3 Therapieeinheiten war ich durchgehend verwirrt… Was war denn da los? Sie flitzte durchs Zimmer, sprach ohne Punkt und Komma, nahm alle Spiele aus den Regalen, machte sie auf, spielte aber nicht. All meine Bemühungen ihre Aufmerksamkeit zu erlangen scheiterten kläglich. Und ich zog alle mir bekannten Register: Musik, mich-zum-Clown-machen, etwas klappernd fallen lassen, Licht aus-und wieder anmachen, mich mit einem Buch in die Ecke setzen, Murmelbahn spielen… Mehr als einen flüchtigen Seitenblick und eine minimale Unterbrechung ihres Redeflusses konnte ich nicht erreichen.
In der vierten Stunde kam ich mir langsam komisch vor… Also sprach ich sie gezielt an: „Du, sollen wir mal was zusammen spielen? Mir ist sonst ganz schön langweilig! Wenn wir beide hier sind können wir doch auch was zusammen machen, oder?“
Pause.
„OK!“
…
??? Nicht, dass ich jetzt weniger verwirrt gewesen wäre, denn ab diesem Zeitpunkt haben wir in schönster Eintracht miteinander gearbeitet.
Wir haben zu Beginn jeder Stunde mit dem Stimmungsbarometer besprochen, wie es uns heute geht, es gab einige Symbolkarten zum auswählen der möglichen Stundeninhalte. Finja konnte auswählen, was sie in der Stunde machen wollte und die Symbole kletteten wir in der der von ihr gewählten Reihenfolge an die Tafel und nahmen sie nach Erledigung auch wieder ab. Sie zeigte einige Lieblingsbeschäftigungen, die sie immer wieder gern wiederholte, aber auch immer zu gegebener Zeit wieder aufgeben konnte. Sie war ein höchst angenehmes und kooperatives Kind.
Umso erstaunter war ich, als ich von der Ergo-Therapeutin des Frühförderzentrums dann einen Bericht über Finja zu lesen bekam. Hier wurde ein völlig anderes Kind beschrieben. „Aufmüpfig, unkonzentriert, Grenzen austestend, unkooperativ, leistungsschwach…“ - wer sollte das sein? Ich vermutete tatsächlich eine Verwechslung und rief kurzerhand die Kollegin an. Sie freute sich über meinen Anruf!
„Vielen Dank, dass Sie anrufen! Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich mit diesem Kind machen soll! Die ignoriert mich total, die ist ja total autistisch!“
Ich bin selten sprachlos - hier war ich es.
Finja hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine ASS-Diagnose, allerdings war sie auch so kooperativ in unseren Stunden, dass dies für mich keinen Unterschied gemacht hätte.
Ich versuchte so gut es ging zu schildern, wie turbulent auch unsere ersten Begegnungen gelaufen waren, wie angenehm unsere Stunden jedoch mittlerweile ablaufen und was sie in der Zwischenzeit schon alles erlernen konnte.
Die Kollegin wünschte sich vehement eine weiterführende Diagnostik. „Wenn die dann wirklich autistisch ist, muss ich mich ja nicht wundern…“
(Ich weiß bis heute nicht, wie ich auf solche Äußerungen reagieren soll…)
Sie leitete die Diagnostik im Frühförderzentrum in die Wege. Ich war in diesen weiteren Verlauf nicht eingebunden, stand diesbezüglich außen vor, da wir als Kooperationspraxis „nur“ für die Durchführung der Logopädie beauftragt waren, blieb für mich alles wie gehabt und wir konnten uns auf unsere Stunden und unsere Inhalte konzentrieren.
Nun gut, die Diagnose wurde tatsächlich gestellt. Ja, Finja war eine Asperger-Autistin. Die Diagnose wurde nicht weiter interdisziplinär besprochen, ich entdeckte sie eher zufällig auf einem der folgenden Berichtsbögen.
Ich orientierte mich weiterhin an ihren Bedürfnissen und wir konnten weiterhin schöne Fortschritte machen. Mensch bleibt Mensch, ob Autist oder nicht spielt da für mich kaum eine Rolle. Mittlerweile konnte sie in der 1-zu-1-Situation schon 20 Minuten am Stück konzentriert bei einem Angebot bleiben.
Dann ein erneuter Anruf der Kollegin!
„Ach du liebe Güte! Ich glaube, da ist was schief gelaufen! Wann kommt Finja zum nächsten Termin zu Ihnen? Falls die Mutter mitkommt, die ist ziemlich sauer!“
…
Was war passiert?
Eigentlich nichts - und genau das war das Drama…
Niemand hatte zu irgendeinem Zeitpunkt die Eltern von Finja über die Verdachtsdiagnose oder den Beginn der Diagnostik oder wenigstens das Ergebnis informiert… Die Mama von Finja wurde nur zu einem Elterngespräch in den Kindergarten einbestellt. Dort saßen dann die beiden Erzieherinnen, die Kita-Leitung, und die Ergotherapeutin aus dem Frühförderzentrum… und eröffneten ihr, wie man nun mit ihrer Tochter arbeiten wolle, dass es ja für eine Betreuungsperson leider schon beinahe zu spät wäre, da sie ja im kommenden Jahr eingeschult würde und man so schnell ja niemanden finden könne, dass man daher vorschlug schon jetzt die Anträge auf den Besuch einer Förderschule zu stellen, da sie ja autistisch sei.
(Wie diese „Diagnose“ so ganz ohne Elternfragebogen etc. gestellt wurde ist mir im Nachhinein ein Rätsel…)
…
Mamas „Begeisterung“ kann man sich an dieser Stelle vorstellen.
Sie stürmte am nächsten Tag in die Therapie bei uns, aufgebracht, wütend, verwirrt, ängstlich - alles auf einmal. Wir führten ein langes Gespräch, in dessen Verlauf ich sie immerhin dahingehend beruhigen konnte, dass wir nun wissen, wie wir Finjas Besonderheiten einordnen können. Und für die weiteren Wege bzgl. Schule waren ja noch keinerlei Entscheidungen getroffen!
Schlussendlich besuchte Finja auch erfolgreich und ohne I-Hilfe, aber mit einer sehr liebevollen und einfühlsamen Lehrerin eine Regel-Grundschule.
So sollte Elternarbeit nicht laufen!
Dies war der Fall, der mir deutlich gemacht hat, wie wichtig regelmäßige gemeinsame Gespräche sind! Gemeinsam! Regelmäßig!
Denn dann bleiben alle auf einem gleichen Wissensstand, Entwicklungen können von verschiedenen Seiten beobachtet, mögliche Sorgen geteilt und weitere Weichenstellungen unternommen werden.
Und auch hier: Bleibt neugierig aufeinander!
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